Schein und Wirklichkeit – die Geisteswissenschaft aus menschlicher Sicht


Vorwort


Es gibt eine Reihe von gewesenen und aktuellen Studierenden, die das Studium enttäuscht hat. Ihnen sagt die Wissenschaft nicht zu. Ich meine damit vor allem Studierende in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, einschließlich Theologie und Psychologie. So habe ich es in vielen Gesprächen erfahren. So ist es mir selbst gegangen, als ich von 1984 bis 1991 studierte, meine Fächer waren Germanistik und Geschichte.
  Gut, man macht sein Examen und qualifiziert sich für einen Beruf – oder auch nicht, studierte Menschen bleiben ja oft ohne rechte Chance auf dem Arbeitsmarkt, Historiker, Politologen zum Beispiel. Nicht wenige brechen das Studium auch ab und suchen auf andere Weise den Weg in die Beschäftigung.
   Dabei ist die Studienzeit als solche angenehm, wird oft als Zeit der Freiheit empfunden und im Nachhinein noch verklärt. Mit Enttäuschung im Studium meine ich die Trockenheit des wissenschaftlichen Arbeitens, auch den Seminar- und Vorlesungsbetrieb, abgesehen davon, dass man interessante Leute treffen kann. Viele haben dabei festgestellt, dass ihnen etwas fehlte, die rechte Begeisterung zum Beispiel, auch die Überzeugung beim Studieren. Manchen kommt im Nachhinein, mit einigem Abstand zur Examensarbeit oder Magisterprüfung, es ziemlich leer und übertrieben vor, was sie geschrieben haben.
  Jetzt zucken sie mit den Schultern oder nehmen insgeheim die Art des Studierens und Examinierens nicht ganz ernst – halten aber ihre Person für das eigentliche Problem, abgesehen von ein paar anderen, strukturellen Problemen der Universität, fehlendes Geld und Personal zum Beispiel, Studiengebühren neuerdings. Sie mögen denken: Die Wissenschaft ist nichts für mich. Sie ist etwas seltsam, und ich kann’s nicht richtig. Diese enttäuschte Haltung meine ich.
  Während meiner Studienzeit bin ich meiner eigenen Enttäuschung auf den Grund gegangen. Ich nahm eine Auszeit und las die Gründerväter, die Autoritäten, die ständig genannt wurden, und setzte mich mit ihnen auseinander. Da begann ich, die Geisteswissenschaft nicht nur emotional, sondern auch mit Argumenten abzulehnen.
  Ich glaube jetzt, dass die Wissenschaft im Studium notwendig so nervtötend wirkt. Ich glaube nicht, dass ich nur ein subjektives Problem hatte, glaube auch nicht, dass andere Frustrierte nur ihre persönliche Unlust oder Unfähigkeit beklagen. Ich glaube, dass der Fehler nicht auf Seiten der enttäuschten Studierenden liegt.
  Meines Erachtens liegt der Fehler bei den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Ich denke, dass die persönliche Enttäuschung die natürliche Reaktion in einer Situation darstellt, die hohe Erwartungen mit sich bringt. Das Studium weckt Erwartungen; diese werden enttäuscht. Das Studium verspricht Sinn – wird aber als sinnlos erlebt.
  An dieser Stelle setzt das Buch ein; es überprüft den Sinn der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Das ist neu, so viel ich weiß. Bisher wurde die Wissenschaft noch nicht von außen begutachtet, weil das Begutachten selbst wissenschaftlich definiert ist. Wissenschaft hält sich per se für die außenstehende, kritische Warte.
  Gedankliche Arbeit, die ernst genommen wird, muss wissenschaftlich begründet sein. Die wissenschaftlichen Standards in der Textproduktion, die Fachbegriffe, Methoden, Literaturverweise, garantieren erst die Gültigkeit des Gesagten. Sie legen einen bestimmten Sprachstil fest, der für das anerkannte Denken unerlässlich geworden ist. Ja, das Denken selbst identifiziert sich mit diesem wissenschaftlichen Stil, so dass Ausdruck und Inhalt nicht zu trennen sind. Das heißt, ein wirklich vernünftiger Gedanke ist begrifflich formuliert, ist methodisch erarbeitet und in der akademischen Literatur der Gelehrten nachgewiesen. Die Wissenschaft kommt der Wahrheit am nächsten, jedenfalls glauben das alle, die studieren.
  Die Vernunft der Geisteswissenschaft wurde noch nicht in Frage gestellt. Ich tue das und versuche ihr den Spiegel vorzuhalten, indem ich Texte untersuche. Sonst analysiert die Wissenschaft den Menschen – seine Sprache, Literatur, Religion, Gesellschaft, Psyche – jetzt ist der Mensch dran, die Wissenschaft zu analysieren.
  Ich verletze damit ein intellektuelles Tabu. Wir sehen uns heute nicht in der Lage, mehrere Fächer oder gar die Geisteswissenschaft generell zu beurteilen. Wir scheuen davor zurück, weil wir bei uns einen Mangel an Bildung, wenn nicht an Verstand vermuten. Wir glauben, die Fachwissenschaften seien viel zu verwickelt, um sie zu überblicken. Ich meine, dass wir den Mut brauchen. Wir müssen uns zur Urteilsfähigkeit erheben, damit wir nicht der Wissenschaft ausgeliefert sind. Wir ergeben uns sonst einem Automatismus des Systems, einer übergreifenden Entwicklung der Institutionen, die ohne Kontrolle bleibt.
  Dabei bemühe ich mich der Gefahr zu entgehen, selbst geisteswissenschaftlich zu schreiben und besonderes Wissen zu behaupten. Ich meide weitschweifende, komplizierte und mit Namen oder Fremdworten gespickte Sätze. Ich suche den normal gebildeten Leser. Der Text ist keine schwere Kost, abgesehen von manchen Beispielen aus den besprochenen Werken. Für Ihr eigenes Urteil brauchen Sie diese Begegnung mit wissenschaftlichen Werken.
  Das Buch hat eine Einführung (Was ist Wissenschaft?) und eine Ausführung in zwei Teilen (Das ist Wissenschaft). Die Einführung dient dazu, meine Kritik zu erklären. Anhand von Werken aus dem Bereich der Philosophie zeige ich, was ich falsch finde. Da es mir ums Grundsätzliche geht, beschäftige ich mich auch mit großen Namen wie Kant.
  Die Ausführung geht dann in die einzelnen Fächer und versucht nachzuvollziehen, was diese jeweils ausmacht. Hier bespreche ich aktuelle und erfolgreiche Einführungsbände, darunter Klassiker wie das Buch von Karl Rahner oder den so genannten „Kleinen Lausberg“. Ich suche nach tragenden Gedanken, also nach dem, was die Autoren bewegt. Auch gegen erste oder zweite Bedenken folge ich ihnen, bis sie sich letztlich widerlegen.
  Wer möchte, kann die Geisteswissenschaft quer durch ihre Themen kennen lernen. Was macht die Theologie? Was die Sprachwissenschaft? Was die Soziologie, die ich mitbehandle? Der Eindruck ist in der Breite einigermaßen bestürzend. Wer sich nicht mit allen Fächern beschäftigen möchte, kann auch in Auszügen lesen. Die Muster wiederholen sich.
  Mir ist klar, dass meine Aussagen provokant sind, ja auf den ersten Blick radikal und einseitig erscheinen. Einwände drängen sich auf, die die wissenschaftliche Argumentation rechtfertigen: „Zugegeben, aber…“
  Auch scheint es überheblich oder ungebildet zu sein, eine Vielzahl von Gelehrten und eine große Tradition in Frage zu stellen. Dem kann ich nur entgegnen, dass mein Buch die Probe abgibt. Der Anlass, es zu schreiben, war diese Erfahrung: Auf der Suche nach geistiger Nahrung schaute ich in wissenschaftliche Bücher – und fand, was ich im Folgenden beschreibe.


Texte und Buchcover mit freundlicher Genehmigung des agenda Verlags, Münster

 








Stefan Schulze Beiering
Schein und Wirklichkeit
Die Geisteswissenschaft aus kritischer Distanz

agenda Verlag 2007

295 S., broschiert, ISBN 978-3-89688-304-9

22,- EUR