Kleine Stammesgeschichte

Frauen lernten früher das Reden. Während wir Männer noch stumm auf die Jagd gingen, uns dabei mit Zeichen verständigten und Elche erlegten, spielten die Frauen mit den kleinen Kindern in der Höhle (im Winter) oder vor dem Zelt (im Sommer). Sie formten Laute, glucksten vor Glück, denn das machte ihnen Spaß. Sie lernten sich auszudrücken, zuerst ihre mütterlichen Gefühle, und tauschten sich darüber aus. Bald erweiterten sie ihren Wortschatz auf Backrezepte und Töpfe. Schließlich empfingen sie sogar uns Männer, wenn wir müde heimkehrten, mit Worten wie: Du schon wieder! Nichts geschossen? Oder: Oh Süßer! Bring das Zicklein her!
   Sie bemühten sich uns beizubringen, was sie erlernt hatten, aber wir Männer waren nicht sonderlich begabt und auch kaum daran interessiert. Sicher, Worte wie „Du, Sex!“ prägten sich uns schnell ein, doch darüber hinaus blieb unser Sprachschatz sehr beschränkt. Untereinander schwiegen wir weiter, zeigten auf Elche oder Wollnashörner und erfreuten uns nur an der Stimme der Bogensehne.
  Warum auch reden? Die Welt war und sie ist schön ohne Geplapper. Der sanft fallende Regen, aufsteigender Nebel, hängende Äste, die Sonne, verschwommen im Dunst… Wir klopften uns auf die Schulter, kniffen uns in die Backen, pufften uns gegenseitig; wir liebten uns rein, ohne den Klang äffischer Laute, unberührt vom Getöse oder Geschnatter von heute.
  Anders unsere Frauen. Einmal angefangen hörten sie nicht wieder auf. Sie sprachen übers Kuchenbacken und Waren eintauschen, übers Putzen und Zelt auswischen, ihre Kinder natürlich, und vor allem: über ihr Äußeres. Weiß der Vater der Elche, wie sie darauf kamen! Da sie ihr Thema gefunden hatten, ging es um nichts anderes mehr! Fortwährend beschäftigten sie sich mit ihrer „Mode“. Wir Männer begriffen das Wort nicht. Ein bestimmtes Kleidungsstück konnte es sein oder ein anderes, mehrere oder keines. Die Frisur gehört dazu. Und in einem Atemzug sprachen sie über Pflegemittel für ihre Körper, ihr Gesicht, ihre Hände, sogar die Fußnägel!
   Wir ließen uns unser Befremden wenig anmerken, verstanden auch nicht alles, aber das, was wir mitbekamen, steigerte unsere Besorgnis. Wie, wenn die Frauen plötzlich auf die Idee kämen, uns unter dem gleichen Aspekt zu betrachten? Sollten auch wir verändert werden? Mussten wir in naher Zukunft stillhalten und an uns zupfen lassen oder zum Festfressen „Mode“ tragen?
  Bald wurden unsere Befürchtungen von der Realität überholt. Krochen wir am Abend mit Frau unter das gemeinsame Fell, so drehte sich die eine oder andere um und unsereins den Rücken zu, mit gerümpfter Nase, wobei wir doch die zwei Worte gesagt hatten („Du, Sex“). Sie gaben uns mit ihrem geformtem Atem oder, falls wir nicht kapierten, mit eindrücklichen Gesten zu verstehen, dass wir für sie nicht fein genug rochen(!) Sie wünschten uns jetzt frisiert und rasiert, ja, bartlos. Kurzum, wir sollten Weiber werden, wenn wir Männer sein wollten.
  Das passte mir nicht. Das drückte und drängte in mir, bis ich es – nach Monden der Bitterkeit – öffentlich eingestand. Ich musste dazu einige Worte lernen, was macht man nicht alles! Zuvor hatte ich bereits das Aufweichen der Männerfront beobachten können, einige trugen die Haare nun geflochten oder geschnitten. Manche hatten sich schon mehrmals gewaschen. Also sprach ich zu den mir Vertrauten:
„Freunde!“
Ich räusperte mich. Wir waren auf dem Heimweg von der Jagd, Unim und Gesolf trugen vor mir das Hirschkalb, Bärenlaub und Felchum trabten brummend hinter mir her. Unim und Gesolf verharrten abrupt, das Summen der beiden anderen verstummte. Ich sprach noch einmal:
„Freunde!“
Die Angesprochenen wandten sich mir zu, sahen mich mit skeptischen, geweiteten, irritierten und erschreckten Augen an. Nie zuvor hatte es so etwas gegeben, ein Mann der mit seinesgleichen sprach! Das Hirschkalb glitt zu Boden. Ich fuhr fort:
„Wir haben ein Problem!“
Ich sah den Freunden in die Augen.
„Versteht ihr?“
Da nickten sie und es bröckelte gleichsam aus ihnen heraus:
„Problem. Klar. Verstehn wir. Was denn?“
Ich holte kurz Luft, senkte den Kopf und sprach:
„Die Frauen.“
Beifälliges Gemurmel. Gesprochene Fetzen: „Problem. Frauen. Was denn?“
  Ich musste das den anderen in kurzen Sätzen erklären, einleuchtend, in den wenigen Worten, die sie verstanden. Dieselben hatte ich mir in Nächten der Verzweiflung zurecht gelegt. Doch befiel mich in diesem Augenblick die Angst des Redners vor Beginn seiner Rede. Ja, die Magie der Zitterespe hatte mich befallen: Was sollte ich sagen? Wie sollte ich es sagen? Das Gefäß meines Geistes dunkel und leer, meine Zunge pelzig. Ich fühlte mich blamiert und das ist gar kein Ausdruck! Ich hätte im moosigen Boden versinken mögen! So ohnmächtig hatte ich mich nie gefühlt, so verzagt! Ihr Worte macht das, oh weibisches Verderben! Grimmig schnaubte ich, ballte die Faust und warf den Bogen in den Erlenstrunk zur Rechten:
„Die Frauen sind das Problem! Sie machen uns zu, zu zahnlosen Mäulern – zu, zu Bäumen ohne Holz, zu zu…“
Da mir die Worte fehlten, formte ich sinnlose Laute: „Ii-Di-Oo-Tenn!“
  Ich schnappte nach Luft, ruderte mit den Armen. Jetzt vielen mir die einstudierten Sätze wieder ein: „Mir fehlt der natürliche Sex! Ja! Mir fehlt die einfache Lust! Immer muss ich mich rasieren! Ich will, ich will – mitreden!“
  Verblüfft über meine eigene Wendung hielt ich inne. Bärenlaub und Gesolf, Unim und Felchum standen sprachlos, mit offenen Mündern. Der Schluss meiner Rede hallte irgendwie nach: Ich will – mitreden. Das wollte ich doch gar nicht, hatte ich nicht gewollt. Keinesfalls wäre ich auf die Idee gekommen, diesen Satz vorauszudenken oder gar auszusprechen.
  Den Frauen wollte ich Vorwürfe machen, richtig. Das Problem war der Sex, richtig, der mangelnde. Wir Männer hatten Recht, und litten zu Unrecht, richtig. Worte seien nur zur Not zu sagen, nicht mehr so oft, wie die Frauen es jetzt taten. Die Frauen sollten nicht mehr über das Äußere reden, immer das Äußere! Stattdessen sollten sie uns mit Leib und Seele liebkosen, jawohl! So war es gedacht. So hatte ich mir die Worte zurecht gelegt.
  Jetzt hatte gesagt: Ich wolle mitreden. Nur: mitreden! Mit den Frauen: reden! Mit ihren Worten! Dahin hatte mich das Sprechen gebracht, der Gebrauch meiner Zunge, die gesprochene Sprache. Meine Gedanken hatten sich verdreht. Ich war verführt worden, die Worte der Frauen hatten mich vorgeführt. Wütend verschloss ich den Mund. Ich sagte nichts mehr. Ich rupfte meinen Bogen aus dem Strunk und stapfte davon.
  Die Nacht schlief ich unter Sträuchern. Ich schmollte. Haderte mit mir. Nahm es den Frauen übel. Knirschte mit den Zähnen. Schlug meine Fingerknöchel gegen die Stirn. Der hohle Klang beruhigte mich. Allein, die alte Beschaulichkeit wollte nicht wiederkehren. Als der Morgen kam, dampfte der Wald, Tautropfen glitzerten, ein Hase hoppelte heran. Ich lehnte an der Rinde einer Ulme, befühlte die Flechten darauf. Meine Gedanken blieben finster.
  Nun wusste ich, dass sich die Welt verändert hatte, ein für allemal. Wir würden anfangen zu reden, wie die Frauen. Wir würden, wenn wir redeten, und das war nur eine Frage der Zeit, unkontrolliert abschweifen und das Gegenteil von dem behaupten, was wir eigentlich vorgehabt hatten. Wir würden unseren Willen nicht mehr nachgehen, sondern im Gebrauch der Worte verlernen. Unsere schlichte Entschlossenheit – dahin! Unsere Selbständigkeit – verloren.   Stattdessen Zwiegespräch und gemeinsame Beschlüsse. Von wem? Der Sprache? Wir waren ausgeliefert an den Redefluss. Mit welchem Ergebnis? Wohin ging die Reise?
  Ich schlurfte nach Hause, schlich mich ins Zelt, verkroch mich unter die Felldecke. Meine Frau legte sich zu mir und wärmte mich mit der nackten Haut ihres Körpers.
Ich kann nicht, sagte ich.
Doch, flüsterte sie.